Léon Stéphane Aloys Théophile Lhermitte wurde am 26. Juni 1903 in Verviers als Sohn von Théophile Auguste Joseph Lhermitte und Hortense Antoinette Marie Ghislaine Gilles geboren. Seine Muttersprache war Französisch und er konnte gut lesen und schreiben. Lhermitte war laut der Zeugenaussage von Albert Melchior (Leutnant eines S.R.A., Service de Renseignements et d’Action [Nachrichten- und Aktionsdienst]) eine sehr ehrliche, vertrauenswürdige und patriotische Person mit ausgeprägtem Sinn für ihre bürgerlichen Pflichten. Am 12. Februar 1927 heiratete er Mariette Zélia Mélanie Ghislaine Pieron, die in den darauffolgenden Jahren einen Sohn und drei Töchter gebar. Seine Familie war ihm sehr wichtig und er verbrachte gerne Zeit in der Natur oder auf Reisen.
Léon Lhermitte war als internationaler Spediteur tätig. Neben dem Transportunternehmen Lhermitte, das sein Großvater 1871 gegründet hatte, führte er ein Geschäft in Verviers. Das Familienunternehmen Lhermitte war bereits vor Kriegsbeginn auf den Transport von Textilien spezialisiert und betrieb neben der Hauptgeschäftsstelle in Verviers ein Transportbüro in Aachen. Léon Lhermitte stand zusätzlich in engem Kontakt mit der deutschen Logistikfirma Schenker A.G., die bis heute sowohl in Deutschland als auch in anderen Nachbarländern Filialen besitzt. Hierbei handelte es sich jedoch nur um eine Zusammenarbeit der beiden Unternehmen, denn Lhermitte wollte die Eigenständigkeit der Firma um keinen Preis aufgeben und nicht vom deutschen Logistikriesen aufgekauft werden.
Nach dem Einfall der deutschen Armee in Belgien am 10. Mai 1940, wurde Léon Lhermitte im Zuge der Mobilmachung eingezogen. Während seiner Abwesenheit gründete Schenker A.G. eine Geschäftsstelle in Lüttich. Als Lhermitte anschließend im August 1940 nach Verviers zurückkehrte, vertraute ihm das deutsche Unternehmen die Übernahme von zahlreichen Transporten an. Er fungierte als Vertreter der Schenker A.G. und ab November 1940 handelte die Firma Lhermitte mit etlichen deutschen Firmen. Sie transportierte unter anderem Waren von Firmen wie der Zentral-Textil-Gesellschaft Berlin, die unter der Kontrolle der Nationalsozialisten standen. Außerdem organisierte er den Transport von Stoffen und Kleidungsstücken, die direkt für die Wehrmacht bestimmt waren.
Parallel zu dieser Tätigkeit suchte Léon Lhermitte nach seiner Rückkehr Victor Désiré Ancion auf, der für einen Nachrichten- und Aktionsdienst tätig war. Lhermitte bot ihm seine Dienste an und wurde Agent dieses Netzwerkes. Außerdem traf er Albert Krott, Anführer des Nachrichtendienstes Boucle, der ihn dazu animierte, sein Büro in Aachen erneut zu öffnen und so Transporte für die Besatzer zu organisieren. Ab Mai 1941 wurde Lhermitte zusätzlich Mitglied des Widerstandsnetzwerkes Luc-Marc (zuerst Luc genannt, später zu Marc umbenannt). Durch die von ihm preisgegebenen Information zu den Strecken, der Ladung und den Fahrtzeiten der deutschen Transporte konnten die Nachrichtendienste verschiedene Sabotageaktionen planen. Des Weiteren konnte die Royal Air Force dank der Auskünfte gezielt Depots oder Züge bombardieren. In Lhermittes Laden in Verviers versteckten die Mitglieder der Netzwerke Sprengstoff in Waren mit deutschem Etikett und konnten ihn so transportieren.
Am 1. Juni 1941 wurde er zum Oberfeldwebel eines Nachrichtendiensts (adjudant A.R.A. [= Agent de Renseignement et d’Action]) ernannt. Diese Ernennung war die offizielle Anerkennung seiner alltäglichen Aktivitäten im besetzten Belgien, die ihn von gelegentlichen Helfern der Widerstandsnetzwerke unterschied. Darüber hinaus wurde ihm das Kriegskreuz mit Palme sowie die Auszeichnung „Ritter des Kronenordens“ (Chevalier de l’Ordre de la Couronne) verliehen.
Am 25. Februar 1944 wurde Léon Lhermitte wegen seiner Tätigkeit in einem patriotischen Netzwerk in Verviers verhaftet. Er verbrachte einige Tage im Gefängnis St. Léonard in Lüttich, ehe er ins Gefängnis von Bochum und anschließend ins Gefangenenlager nach Esterwegen verlegt wurde. Anfang März 1944 wurde Lhermitte ins Gefängnis von Bayreuth verlegt, in dem er etwa ein Jahr blieb. Als Zwangsarbeiter stellte er dort Koffergriffe und später Militärjacken her. Laut der Aussage eines Mitinsassen habe er jede Möglichkeit genutzt, diese Arbeit zu sabotieren. Am 13. März 1945 kam er ins Konzentrationslager Flossenburg, von wo aus er am 19. März in ein Arbeitskommando nach Regensburg geschickt wurde. Dort mussten die Gefangenen bei der Behebung von Fliegerschäden am Bahnhof und an den Gleisen helfen. Ihre Aufgabe bestand darin, neue Gleise zu verlegen und das Schotterbett aufzuschütten.
Als sich die Amerikaner der Stadt Regensburg näherten, gaben die Leiter des Lagers den Befehl zur „Evakuierung“. In der Nacht zum 23. April 1945 machten sich rund 200 Gefangene und 50 SS-Männer auf den 278 Kilometer langen Weg von Regensburg nach Laufen. Die wenigen Überlebenden dieses Todesmarsches wurden anschließend in Laufen von den Amerikanern befreit.
Léon Lhermitte war bereits zu Beginn dieses Marsches sehr geschwächt. Er litt an Durchfall und war allgemein in keiner guten körperlichen Verfassung. In der Nacht vom 29. auf den 30. April erlitt er bei Neuötting einen Schwächeanfall, was dazu führte, dass er sich nicht mehr in der Reihe der marschierenden Kolonne befand. Daraufhin erschoss ihn ein SS-Mann.
Bei der Vergabe des offiziellen belgischen Status für politische Gefangene war der Fall Lhermitte problematisch. Dadurch, dass er freiwillig mit der Firma Schenker A.G. zusammengearbeitet hatte, konnte man ihn nicht als Zwangsarbeiter einstufen. Außerdem hatte er durch diese Geschäfte Geld verdient, weshalb man sie nicht als uneigennützig bezeichnen konnte. Nach zahlreichen Zeugenaussagen und Untersuchungen wurde er im April 1950 offiziell als politischer Gefangener anerkannt und seine Frau konnte somit Hilfszahlungen beantragen.